Der erste Wiener Kongress, der 1814-1815 stattfand, führte zum Frieden in Europa für fast 100 Jahre, 1815-1914. Er führte zu einem Europa, das Konflikte durch Diplomatie und nicht durch Kriege lösen konnte. Der Kongress kann als der erste Schritt zu einer internationalen Ordnung angesehen werden, die auf Konfliktmanagement durch Konsens beruht, und als Vorläufer der Vereinten Nationen, der OSZE und anderer wichtiger Organisationen. Das Europa des 21. Jahrhunderts braucht einen neuen Wiener Kongress, ein inklusives Forum der Diplomatie, das alle europäischen Länder einbezieht, um Frieden, Sicherheit und Zusammenarbeit zu erreichen, die für die Schaffung einer europäischen strategischen Autonomie unerlässlich sind.
Frances Mautner Markhof
29. Februar 2024
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Der erste Wiener Kongress, der 1814-1815 stattfand, führte zu einem fast 100 Jahre währenden Frieden in Europa (1815-1914). Er bedeutete auch den Übergang zu einem Europa, das Konflikte durch Diplomatie und nicht durch Kriege lösen konnte. Der Kongress war auch der erste Schritt zur Schaffung eines internationalen Formats und einer internationalen Ordnung, die auf Konfliktmanagement durch Konsens beruht, und kann als Vorläufer der Vereinten Nationen, der OSZE und anderer wichtiger Organisationen betrachtet werden.
Jetzt, im 21. Jahrhundert, braucht Europa einen neuen Wiener Kongress, ein inklusives Forum für Diplomatie, um Frieden, Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa zu erreichen. Dies bedeutet, dass nicht nur die EU und die europäischen NATO-Länder, sondern auch Russland und andere europäische OSZE-Länder einbezogen werden müssen. Die Einbindung und Zusammenarbeit all dieser Länder ist eine wesentliche Voraussetzung für die Schaffung einer europäischen strategischen Autonomie durch ein funktionierendes europäisches Sicherheitssystem, das Europa mit seinen eigenen Mitteln erschaffen und aufrechterhalten muss.
Eine neue europäische Sicherheitsordnung würde europäische Sicherheitsinteressen auf eine Weise fördern, die keinen Feind erfordert, keine Schaffung „des Anderen“, die für den Aufbau und die Aufrechterhaltung übermäßig großer und teurer militärischer Kapazitäten so wichtig ist. Die Daseinsberechtigung der NATO ist überholt, spiegelt jedoch weiterhin die Ziele wider, die ihr erster Generalsekretär, der britische Lord Ismay, zum Ausdruck brachte, als er erklärte, die NATO sei geschaffen worden, „um die Sowjetunion draußen, die Amerikaner drinnen und die Deutschen unten zu halten“.
Ein neuer Wiener Kongress muss daher – durch Verhandlungen, Zusammenarbeit und Kompromisse – ein von Europa geführtes und kontrolliertes Sicherheitssystem entwickeln, das das politische, militärische und finanzielle Engagement aller beteiligten europäischen Staaten erfordert. Dabei muss sich der Kongress mit der Tatsache auseinandersetzen, dass die USA mit ihren zahlreichen Militärbasen und Atomwaffen in Europa nicht nur das mächtigste Mitglied der NATO, sondern auch das mächtigste „europäische“ Land geworden sind.
Outsourcing Europas bedeutet, dass die USA wichtige Aspekte der europäischen Souveränität übernommen hat. Diese umfassen die europäische Verteidigungs-, Sicherheits- und Außenpolitik, wie auch politische, finanzielle, energiepolitische und andere Angelegenheiten die für Europa von zentraler Bedeutung sind. Die Vorrangstellung der USA besteht in allen verteidigungs- und sicherheitsrelevanten Angelegenheiten Europas fort, einschließlich der von den USA verhängten Sanktionen, die bedeutende und unverhältnismäßig negative wirtschaftliche/politische/finanzielle Auswirkungen auf die Volkswirtschaften der EU gehabt haben.
Die europäischen NATO-Länder haben ihre Verteidigung und Sicherheit nicht nur durch die Kontrolle der NATO durch die USA und der vielen US-Militärstützpunkte und -anlagen in Europa ausgelagert, sondern auch durch die Stationierung von US-Atomwaffen in fünf europäischen NATO-Ländern. Diese Vereinbarungen über die nukleare Teilhabe beruhen auf der NATO-Politik der erweiterten nuklearen Abschreckung, bei der bestimmte Nichtkernwaffenstaaten, die NATO-Mitglieder sind, die Stationierung von US-Atomwaffen auf ihrem Hoheitsgebiet akzeptieren und ihre eigenen Streitkräfte bereitstellen, um diese Waffen in Kriegszeiten einzusetzen.
Eine erweiterte nukleare Abschreckung für Verbündete der USA ist jedoch möglich ohne die Stationierung von Kernwaffen auf ihrem Territorium. Dies ist in der Republik Korea und in Japan der Fall. Die nukleare Teilhabe verstößt auch gegen die Verpflichtungen aus den Artikeln I, II und VI des Nichtverbreitungsvertrags (NVV) sowohl der beteiligten Kernwaffenstaaten als auch der Nichtkernwaffenstaaten.
Die nukleare Teilhabevereinbarungen der USA mit den NATO-Verbündeten und den US-Militärstützpunkten in Europa festigen zwar die Macht und Präsenz der USA in Europa, verringern aber letztlich die Sicherheit und Stabilität Europas, anstatt sie zu erhöhen, und sorgen dafür, dass Europa ein Hauptschauplatz eines möglichen künftigen Konflikts zwischen der NATO und Russland sein wird.
Die ursprüngliche Daseinsberechtigung der NATO bestand darin, den ehemaligen und heute nicht mehr existenten Warschauer Pakt zu bekämpfen. Unter der Führung der USA hat die NATO jedoch eine neue Daseinsberechtigung gefunden, indem sie Russland als gemeinsamen Gegner/Feind identifiziert, von dem die NATO behauptet, er wolle die Kontrolle über die Länder der ehemaligen Sowjetunion zurückgewinnen, was Russland jedoch entschieden bestreitet. Nichtsdestotrotz schüren Drohungen und Bedrohungswahrnehmungen – gerechtfertigt oder ungerechtfertigt – auf allen Seiten weiterhin den Aufbau dieses Feindbilds, insbesondere seit dem russischen Angriff auf die Ukraine im Februar 2022.
Am Ende des Kalten Krieges im Jahr 1991 war Russland daran interessiert, ein gesamteuropäisches Sicherheitssystem zu schaffen und sich daran zu beteiligen, nicht an der NATO. Dies hätte durch eine Stärkung der KSZE (Konferenz über Sicherheitskooperation in Europa), der heutigen OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa), erreicht werden können. Dies wurde jedoch von denjenigen abgelehnt, die sich als „Gewinner“ des Kalten Krieges betrachteten und ein auf der NATO basierendes Sicherheitssystem in Europa bevorzugten. Damit wurde eine entscheidende Chance vertan, Russland, das für den Sieg der Alliierten im Zweiten Weltkrieg mitverantwortlich war, nicht zu einem erklärten Feind zu machen.
George Kennan erklärte in einem Artikel in der New York Times vom 2. Mai 1998, dass die Osterweiterung der NATO ein „tragischer Fehler“ sei: „Niemand hat irgendjemandem gedroht.“ Ein Schlüsselfaktor der Russlands Entscheidung in der Ukraine zu intervenieren beeinflusste, war die Osterweiterung der NATO bis an die Grenzen Russlands, was ein Verstoß gegen die bei der Wiedervereinigung Deutschlands 1990 gemachten Versprechen dies nicht zu tun darstellte. Diese Osterweiterung der NATO erwies sich, wie Kennan und andere renommierte Experten vorausgesagt hatten, als „tragischer Fehler“.
Dagegen leistete Russland wiederholt, aber friedlich, Widerstand, bis zu dem Zeitpunkt, als die USA/NATO als Reaktion auf die „Maidan-Revolution“ und andere Ereignisse versuchten, die Ukraine als potenzielles NATO-Mitglied aufzunehmen. Sie überschwemmte die Ukraine mit Waffen und Militärberatern und die Ukraine überschwemmte die NATO, die EU und die Medien mit Forderungen nach Mitgliedschaft, Geld und militärischer Unterstützung. Vor dem Hintergrund der Geschichte und der Realität ist jedoch klar, dass der russisch-ukrainische Konflikt letztlich durch eine Verhandlungslösung beendet werden muss. Es liegt im Interesse aller europäischen Länder, dass dies eher früher als später geschieht.
Auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 schlug der russische Präsident Wladimir Putin eine gesamteuropäische Sicherheitsstruktur für alle europäischen Länder einschließlich Russlands vor. Dieser Vorschlag wurde vom Westen, vor allem von der NATO und ihrem führenden Mitglied, den USA, abgelehnt. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, sich daran zu erinnern, dass Frankreich als gleichberechtigter Partner am ursprünglichen Wiener Kongress teilnahm, obwohl die Vorherrschaft einer Macht, nämlich Frankreichs, damals die größte Bedrohung für den Frieden und die Sicherheit in Europa darstellte. Die Rolle Frankreichs auf dem Kongress war von zentraler Bedeutung für die Herstellung eines neuen und dauerhaften Gleichgewichts der Mächte in Europa.
Durch die Ausweitung der NATO-Mitgliedschaft, der Stützpunkte und der Aufrüstung bis an die Grenzen der Russischen Föderation haben die USA und ihre NATO-Verbündeten bewiesen, dass sie frühere Vereinbarungen und ihre Verpflichtungen zur Wahrung der Unteilbarkeit der Sicherheit, die u.a. in der OSZE-Charta für europäische Sicherheit von 1999 vereinbart und verankert wurde, missachtet haben. Das wesentliche Prinzip der Unteilbarkeit der Sicherheit besteht darin, dass Sicherheit kein Nullsummenspiel sein darf – was die Sicherheit eines Landes oder einer Gruppe von Ländern erhöht, darf die Sicherheit anderer nicht verringern.
Das Outsourcing Europas bedeutet, dass Europa bisher wenig oder gar keine Kontrolle darüber hatte, ob und wie seine Sicherheitslage mit seinen Zusagen und Verpflichtungen zur Wahrung der „Unteilbarkeit der Sicherheit“ übereinstimmt. Zwei kritische Ereignisse, die Europa betreffen, haben Europa nunmehr dazu veranlasst, Strategien und Maßnahmen zu entwickeln, um eine „strategische Autonomie“ zu erreichen, d.h. Europa übernimmt die Verantwortung für seine eigene Sicherheit, Verteidigung und andere Bereiche. Diese Ereignisse waren: (1) Der chaotische Abzug der US-Streitkräfte aus Afghanistan im August 2021 ohne vorherige Absprache mit den NATO-Verbündeten und (2) der Ukraine-Russland-Konflikt.
Aber wenn die Geschichte etwas lehrt, dann, dass die Lösung für die Erreichung von Stabilität, Sicherheit und Frieden in Europa sich seit dem Ende des Kalten Krieges nicht geändert hat, nämlich durch Diplomatie, Zusammenarbeit und Kompromisse, um ein gesamteuropäisches und integratives Sicherheitssystem zu entwickeln, das auf der Unteilbarkeit der Sicherheit beruht. Ein neuer Wiener Kongress, an dem alle europäischen Staaten teilnehmen, könnte ein wirksames Mittel sein, um den schwierigen, aber notwendigen Prozess zur Erreichung strategischer Autonomie einzuleiten.