Lebendige Hummer in kochendes Wasser werfen, lebenden Krabben die Beine abtrennen, Krebse in beengten Wasserbecken stapeln – der Tierschutz greift bei diesen Praktiken und Tieren kaum bis nicht ein. Der Grund? Die weitverbreitete Annahme, dass Krebstiere wie Hummer, Krabben oder Garnelen keinen Schmerz empfinden können. Eine neue Studie stellt diese Überzeugung nun in Frage. Die Forschungsergebnisse zeigen: Krebstiere spüren nicht nur Schmerzen, sie erinnern sich auch daran und verändern ihr Verhalten aufgrund früherer schmerzhafter Erfahrungen. Diese Tiere sind weit mehr als bloße Reflexwesen – sie besitzen Empfindungsfähigkeit.
Lukas Barcherini Peter
17. Februar 2025
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Über Jahre hinweg galt die Annahme, dass Krebstiere keinen Schmerz empfinden können – ein Schluss, der aus der Struktur ihres dezentralen Nervensystems gezogen wurde. Anders als Säugetiere, die über ein zentrales Nervensystem mit Gehirn und Rückenmark verfügen, stützen sich Krebstiere auf sogenannte Ganglien – Nervenzellcluster, die über ihren gesamten Körper verteilt sind. Dieses Netzwerk erschien lange Zeit zu simpel, um die komplexe Verarbeitung subjektiven Schmerzes zu ermöglichen. Ihre Reaktionen auf schädliche Reize, etwa Quetschungen oder chemische Einwirkungen, wurden daher als bloße Reflexe interpretiert – automatische, unbewusste Abwehrmechanismen gegen unmittelbare Gefahr. Doch diese Annahmen stehen nun auf dem Prüfstand.
In einer bahnbrechenden Studie wählten Forscher der Universität Göteborg Strandkrabben als Modellorganismus – ihre Physiologie und ihr Verhalten ähneln stark denen anderer Krebstiere (Kasiouras E, Hubbard PC, Gräns A, Sneddon LU. Putative Nociceptive Responses in a Decapod Crustacean: The Shore Crab (Carcinus maenas). Biology (Basel), Oktober 2024).
Die schwedische Studie ist die erste, die Krebstieren neuronale Messgeräte anlegte. Die Krabben wurden kontrollierten Tests mit mechanischen und chemischen Reizen unterzogen. Mechanischer Druck wurde auf weiche Gewebe ausgeübt, während schwache Säuren verwendet wurden, um die Schleimhäute chemisch zu reizen. Elektroden, ähnlich denen, die bei einem EEG (Elektroenzephalografie) zum Einsatz kommen, zeichneten die elektrische Aktivität im Nervensystem der Krabben auf und lieferten so einen detaillierten Einblick, wie diese Reize verarbeitet wurden. Ein EEG ist eine Methode, um die spontane elektrische Aktivität des Gehirns zu messen.
Die Ergebnisse der Studie waren überraschend. Die Wissenschaftler konnten nachweisen, dass Krebstiere über Nozizeptoren – also Schmerzrezeptoren – verfügen. Bis zu dieser Studie ging man teils davon aus, dass Krebstiere keine dieser Schmerzrezeptoren besitzen, die gleichen die auch im menschlichen Körper vorhanden sind.
Der EEG-Test zeigte, dass die neuralen Reaktionen je nach Art des Reizes erheblich variierten. Mechanischer Druck löste kurze, aber intensive Aktivitätsausbrüche aus, während chemische Reize langanhaltendere, weniger intensive Reaktionen hervorriefen. Diese Unterscheidung deutet darauf hin, dass das Nervensystem der Krabben unterschiedliche Arten von Schaden kontextuell angemessen verarbeitet, anstatt auf alle Reize mit einem standardisierten Reflex zu reagieren. Diese Komplexität spiegelt wider, wie auch höher entwickelte Tiere, einschließlich des Menschen, schmerzähnliche Signale verarbeiten.
Die Ergebnisse zeigten auch Hinweise auf Lernen und Gedächtnis im Verhalten der Krabben. Nach dem Erleben schädlicher Reize mieden die Krabben aktiv Bereiche oder Situationen, die mit diesen Erfahrungen in Verbindung standen. Ein Beispiel: Eine Krabbe, die an einem bestimmten Ort Unbehagen und Verletzungen erlitt, vermied es später, dorthin zurückzukehren. Diese Verhaltensanpassung deutet darauf hin, dass die Krabben sich an die Erfahrung erinnerten und ihr Verhalten änderten, um künftigen Schaden zu verhindern. Reflexe hingegen beinhalten weder Gedächtnis noch Lernprozesse.
Die Studie dokumentierte auch gezielte Schutzverhalten. Krabben führten Reinigungs- oder Reibebewegungen an den Stellen aus, die schädlichen Reizen ausgesetzt waren – Handlungen, die Versuche ähneln, Unbehagen zu lindern. Auch bevorzugten es die Tiere, kleinere Schäden zu ertragen, um größere Risiken, wie etwa Raubtiere, zu vermeiden. Auch diese Fähigkeit, Risiken und Kosten abzuwägen, deutet auf ein Maß an kognitiver Verarbeitung hin, das über automatische Reflexe hinausgeht.
Die Ergebnisse der schwedischen Studie stimmen mit anderen wissenschaftlichen Arbeiten überein, die darauf hindeuten, dass Krebstiere nicht nur reaktive Organismen sind, sondern ein gewisses Maß an Empfindungsfähigkeit besitzen. Diese anderen Studien haben gezeigt, dass Krebstiere, die reizenden Substanzen wie Essigsäure ausgesetzt sind, häufig schützende Handlungen durchführen, um die Quelle des Schadens zu meiden.
Obwohl die Beweise stark darauf hindeuten, dass Krebstiere schmerzähnliche Empfindungen erleben, bleibt es unklar, ob sie Schmerz im menschlichen Sinne empfinden. Schmerz beim Menschen umfasst nicht nur die Wahrnehmung von Schaden, sondern auch emotionale und kognitive Komponenten, die das Erlebnis unangenehm machen. Die aktuellen Ergebnisse zeigen eine Verarbeitungsstufe bei Krebstieren, die ihre traditionelle Einordnung als empfindungslose Wesen in Frage stellt, kommen jedoch nicht vollständig zu dem Schluss, dass ihre Erfahrung mit dem Schmerz von Säugetieren, einschließlich des Menschen, gleichzusetzen ist.
Krebstiere sind weiterhin von der Tierschutzgesetzgebung ausgenommen, obwohl immer mehr Beweise darauf hindeuten, dass diese Ausnahme veraltet ist. Praktiken wie das lebendige Kochen von Hummern, das Abtrennen der Scheren von lebenden Krabben oder das Überbesetzen von Tanks mit Krebstieren halten an, hauptsächlich weil diese Tiere rechtlich nicht als empfindungsfähige Wesen anerkannt sind. Ein Beispiel: Die europäische Richtlinie 2010/63/EU schützt keine Zehnfußkrebse, obwohl Verhaltens- und neurologische Studien ihre Fähigkeit zu komplexen Reaktionen auf Schaden konsequent belegen. Ebenso arbeiten in vielen Ländern die Fischerei- und Aquakulturindustrien ohne ethische Richtlinien, die das potenzielle Leiden der Krebstiere verringern könnten.
Diese rechtliche Vernachlässigung besteht weiterhin, obwohl die wissenschaftliche Unterstützung für die Empfindungsfähigkeit von Krebstieren wächst. Studien, darunter die kürzlich durchgeführte Untersuchung von Forschenden der Universität Göteborg, liefern überzeugende Beweise dafür, dass Krebstiere schmerzähnliche Verhaltensweisen und neurologische Reaktionen zeigen, die denen von Wirbeltieren ähneln.
In einigen Rechtsordnungen wird bereits Fortschritt erzielt. So änderte das Vereinigte Königreich 2019 seine Tierschutzgesetze, um Zehnfußkrebse einzubeziehen und ihre Fähigkeit zu leiden auf wissenschaftlicher Grundlage anzuerkennen. Diese Entwicklung deutet darauf hin, dass sich die Politik entsprechend weiterentwickelt, um das wachsende Verständnis von Tierkognition und Empfindungsfähigkeit widerzuspiegeln.
Die neuesten Erkenntnisse unterstreichen die tiefgreifenden Implikationen, die mit der Anerkennung von Krebstieren als empfindungsfähige Wesen verbunden sind, was erhebliche Veränderungen in ihrer Behandlung über verschiedene Industrien hinweg erforderlich macht. Vom Einsatz humanerer Schlachtmethoden bis hin zur Neubewertung von Unterbringungs- und Handhabungspraktiken fordert diese Anerkennung einen ethischen Wandel in der gesellschaftlichen Haltung und eine Reform der entsprechenden Tierschutzrechte.
Die schwedische Studie hebt die dringende Notwendigkeit hervor, veraltete Politiken und Praktiken zu überarbeiten, und betont, dass die Behebung dieser Lücken nicht nur eine wissenschaftliche Notwendigkeit, sondern auch eine moralische Verpflichtung ist.