Vor rund 15 Jahren wurde in den Niederlanden das erste „Demenzdorf“ eröffnet. Im Mittelpunkt des Konzepts steht ein anderes Paradigma – die Schaffung von Nachbarschaften, die traditionelle Pflegeeinrichtungen für schwer demenzkranke Bewohner ersetzen. Seitdem sind Dutzende von Demenzdörfern entstanden, vor allem in Europa und Kanada. Die Philosophie von De Hogeweyk® basiert auf der Deinstitutionalisierung der Pflege und der Emanzipation von Menschen mit Demenz, um ihnen Wohlbefinden durch Integration in die Gesellschaft zu vermitteln.
Alexandra Winterstein
16. August 2024
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Die weltweite Zunahme von Demenzerkrankungen ist atemberaubend. Nach Angaben von Alzheimer’s Disease International und der Weltgesundheitsorganisation sind heute rund 55 Millionen Menschen von Demenz betroffen. Da unsere Bevölkerung immer älter wird und wir immer länger leben, wird diese Zahl bis 2030 voraussichtlich auf 78 Millionen ansteigen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass jeder von uns mindestens ein Familienmitglied oder einen engen Freund hat, der von dieser Krankheit betroffen ist.
Es wird immer deutlicher, dass dies eine große Herausforderung für Gesellschaften, Regierungen und die Altenpflege darstellt. Zwar gibt es in Europa und den USA viele Einrichtungen, die sich auf die Behandlung, Betreuung und Unterbringung dieser Patienten spezialisiert haben. Aber in den meisten Fällen werden die Bewohner in Heimen untergebracht, in denen mehrere hundert Menschen in einem Gebäude leben und jedes Zimmer im schlimmsten Fall einem Krankenhauszimmer gleicht. Die Pflege mag zwar hervorragend sein, aber wenn man versucht, sich in die Lage eines Menschen zu versetzen, der in eine solche Einrichtung verlegt wird, ist es offensichtlich, dass das endgültige „Zuhause“ eine beunruhigende Erfahrung sein muss: ungewohnt, unnatürlich und desorientierend. Der Bewohner wird höchstwahrscheinlich nicht verstehen, wo und warum er dort ist.
Ein innovatives Projekt, das unter dem Namen „Demenzdörfer“ bekannt ist, wird seit etwa 15 Jahren durchgeführt. Dieses Projekt hat die Aufmerksamkeit der Medien auf sich gezogen, ist aber für die breite Öffentlichkeit weitgehend unsichtbar, da es wenige dieser Dörfer gibt, nicht viel darüber gesprochen wird und die Öffentlichkeit sie in der Regel nicht betritt. Und doch kommt man, wenn man darüber nachdenkt, nicht umhin zu denken, dass dieses Konzept revolutionär und doch so einfach ist.
Die Idee hinter diesem inspirierenden Projekt ist die Schaffung von Nachbarschaften oder kleinen Gemeinschaften für Bewohner, die alle an Demenz erkrankt sind. Demenz ist der Überbegriff für eine normalerweise fortschreitende Erkrankung (z.B. Alzheimer), die durch die Entwicklung kognitiver Defizite wie Gedächtnisstörungen, Aphasie und die Unfähigkeit komplexeres Verhalten zu planen und einzuleiten, gezeichnet ist.
Die erste Idee für das Dorf entstand 1992 durch das Leitungsteam von De Hogeweyk (Yvonne van Amerongen und Jannette Spiering), das damals ein traditionelles Pflegeheim war. Van Amerongen, Jannette Spiering und später Eloy van Hal waren Mitbegründer des innovativen Konzepts, das speziell für Menschen mit schwerer Demenz entwickelt und zunächst in Weesp in den Niederlanden, einer Kleinstadt in der Nähe von Amsterdam, umgesetzt wurde.
Kritiker hatten Themen mit diesen Dörfern: die anfänglichen Investitionskosten für größere Räume, die politische Unterstützung, fehlendes Personal, mangelndes Bewusstsein und der Glaube, dass die Bewohner in einer glücklichen Fantasiewelt leben. Aber ist das nicht viel besser, als in einem Krankenhauszimmer zu leben und als krank und gebrechlich behandelt zu werden? Gaukeln diese Dörfer den Patienten nur vor, dass es ihnen besser geht, oder geht es ihnen wirklich besser?
De Hogeweyk ist kein krankenhausähnliches Gebäude, sondern eine Gemeinde, die aus häuslichen holländischen Umgebungen besteht: mehrere Straßen, Gärten, Geschäfte, ein Theater, ein Café und – was am wichtigsten ist – kleine Gruppen von malerischen Häusern, in denen etwa 200 Bewohner in benachbarten Häusern untergebracht sind. Das Dorf ist wie eine normale Nachbarschaft – mit der Ausnahme, dass alle Bewohner die gleichen Symptome einer fortgeschrittenen Demenz aufweisen.
Geschultes Personal – Ärzte, Krankenschwestern, Psychologen und Physiotherapeuten – mischt sich nahtlos unter die Patienten. Es wird sorgfältig darauf geachtet, dass traditionelle architektonische Merkmale eines Pflegeheims wie überfüllte Flure, identische Zimmer, geschlossene Innenhöfe und Personal in auffälligen weißen oder blauen Kitteln vermieden werden. Stattdessen wird auf einer Fläche von etwa vier Hektar eine gemütliche, sichere und sogar heilende Umgebung geschaffen. Es ist ein geschützter Ort – die Bewohner können ihn nur durch einen Ausgang verlassen.
Der Plan von De Hogeweyk, Weesp, Niederlande – das erste Demenzdorf. ©The Hogeweyk
Ein einzigartiges Konzept von De Hogeweyk ist die Wahlfreiheit. In herkömmlichen Pflegeeinrichtungen kann ein Bewohner das Zimmer verlassen, befindet sich dann aber sofort in einem gemeinsamen öffentlichen Raum, z.B. einem Gemeinschaftsraum. Der Bewohner kann wählen in sein eigenes Wohnzimmer zu gehen, ob er sein Zimmer verlassen möchte um im Garten zu spazieren oder wenn er sich für Geselligkeit entscheidet, einen Spaziergang durch das Dorf zu machen oder in ein öffentliches Café zu gehen. Autonomie und Unabhängigkeit spielen eine wichtige Rolle für das Wohlbefinden der Bewohner. Es gibt Hinweise darauf, dass sich diese Wohnmodelle positiv auf die Lebensqualität auswirken. Zu den Vorteilen zählen weniger Ängste und Depressionen, weniger körperliche Einschränkungen, die Einnahme von Psychopharmaka sowie weniger Krankenhausaufenthalte. Außerdem sind die Bewohner in der Regel engagierter und körperlich aktiver.
Warum wird dieses innovative Konzept nicht in mehr Ländern umgesetzt?
Demenzdörfer gibt es derzeit in Australien, Dänemark, Frankreich, Großbritannien, Hongkong, Kanada und Norwegen. In einigen dieser Dörfer stehen die Einrichtungen auch anderen Bewohnern der Nachbarschaft offen, was den zusätzlichen positiven Effekt hat, dass die Stigmatisierung verringert wird.
Man könnte meinen, das größte Hindernis sei die Finanzierung. In einem Artikel der New York Times vom 3. Juli 2023 mit dem Titel „As Cases Soar,‘Dementia Villages‘ Look like the Future of Home Care“ wurde auf die hohen Kosten des Systems hingewiesen und dass es sich in Ländern, in denen es keine allgemeine Gesundheitsversorgung gibt, nur die Wohlhabenden leisten können.
De Hogeweyk, das hauptsächlich von der niederländischen Regierung finanziert wurde und dessen Bau etwas mehr als 23 Millionen Euro gekostet hat, ist seit seiner Eröffnung im Jahr 2009 voll ausgelastet. Die Pflegekosten unterscheiden sich nicht von denen herkömmlicher Pflegeheime. Dennoch, so Eloy van Hal im Gespräch mit iGlobenews, braucht es Offenheit und den Mut, Dinge anders zu machen: „Wenn man sich den Kern unserer Arbeit anschaut, ist die größte Herausforderung und Schwierigkeit der Kulturwandel vom klinischen Modell hin zu einem viel sozialeren und ganzheitlicheren Modell der Pflege und Betreuung. Dieser Paradigmenwechsel, diese Veränderung ist das größte Hindernis. Die Gesellschaft, einschließlich der Regeln und Gesetze, ist oft sehr traditionell, medizinisch orientiert und institutionalisiert. De Hogeweyk hilft zu verstehen, dass Menschen mit Demenz in der niederländischen Gesellschaft und in der Welt noch viele Fähigkeiten haben, noch viel lernen und davon profitieren können, aber nur, wenn sie nicht von der Gesellschaft weggesperrt werden“.