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Der BRICS-Block, dem Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika sowie seit kurzem auch Iran, Ägypten, Äthiopien und die Vereinigten Arabischen Emirate angehören, gilt traditionell als Gegengewicht zum westlichen Einfluss. Die jüngste Bewerbung der Türkei um eine BRICS-Mitgliedschaft – als erstes NATO-Mitglied, das einen Beitritt in Erwägung zieht – hat weltweit Aufmerksamkeit erregt und gemischte Reaktionen hervorgerufen. Angesichts der immer vielfältigeren geopolitischen Allianzen der Türkei scheint dieser Schritt dazu bestimmt zu sein, die bestehenden Beziehungen der Türkei, insbesondere zur NATO und zur Europäischen Union, zu beeinträchtigen. Warum sollte die Türkei das Risiko eingehen, das Fass zum Überlaufen zu bringen?

Unter der Führung von Präsident Recep Tayyip Erdoğan verfolgt die Türkei eine proaktive und ehrgeizige Außenpolitik, die darauf abzielt, ihren Einfluss in der Welt zu vergrößern. Ein Beispiel dafür ist ihr offizieller Antrag auf Beitritt zum BRICS-Bündnis, der am 2. September 2024 vom russischen Außenminister Juri Uschakow bekannt gegeben wurde.

Die BRICS-Staaten, die sich für eine multipolare Weltordnung und damit gegen die von vielen als westlich dominiert wahrgenommenen Institutionen wie Weltbank und Internationaler Währungsfonds einsetzen, repräsentieren 45 Prozent der Weltbevölkerung und 28 Prozent des globalen Bruttoinlandsprodukts (BIP). Dies macht den Block zu einem attraktiven Partner für Handel, Investitionen und technologische Zusammenarbeit.

Für die Türkei, deren Wirtschaft in den letzten Jahren mit Herausforderungen zu kämpfen hatte, würde eine BRICS-Mitgliedschaft die Türen zu neuen Märkten öffnen und die Abhängigkeit von westlichen Volkswirtschaften, insbesondere von der EU, dem traditionell größten Handelspartner der Türkei, verringern. Erdoğan betonte auch, dass die BRICS ein Sprachrohr für den globalen Süden seien und der Türkei eine Plattform böten, ihren Einfluss in globalen wirtschaftlichen und politischen Angelegenheiten zu stärken.

Diese Neuausrichtung steht im Einklang mit der allgemeinen Diversifizierungsstrategie der Türkei. Auf einer Pressekonferenz in Washington während des NATO-Gipfels im Juli 2024 betonte Erdoğan den Wunsch der Türkei, vom Beobachterstatus in der von China dominierten Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SCO) zu einer ständigen Mitgliedschaft aufzusteigen.

Ankara ist auch daran interessiert, starke institutionelle Beziehungen zum Verband Südostasiatischer Nationen (ASEAN) aufzubauen und nimmt seit 2018 aktiv an ASEAN-Gipfeltreffen teil.

Eine BRICS-Mitgliedschaft könnte die Bestrebungen der Türkei, sich als zentraler Akteur in der asiatischen Geopolitik zu etablieren, weiter unterstützen.  Die Lage der Türkei an einem eurasischen Knotenpunkt hat ihr schon immer strategische Bedeutung verliehen, aber durch eine Annäherung an die BRICS könnte die Türkei ihre Rolle im Nahen Osten und in Eurasien neu definieren und sich als Vermittler zwischen verschiedenen westlichen und östlichen geopolitischen Blöcken positionieren. Darüber hinaus würde eine BRICS-Mitgliedschaft die Türkei in die Lage versetzen, die Diskussionen über wichtige internationale Themen – von nachhaltiger Entwicklung bis hin zur Terrorismusbekämpfung – mitzugestalten, was Ankara neue Einflussmöglichkeiten auf der Weltbühne eröffnen würde.

Eine BRICS-Mitgliedschaft ist jedoch mit bedeutenden diplomatischen Schwierigkeiten verbunden. Die NATO-Mitgliedschaft ist seit langem festem Bestandteil der türkischen Verteidigungs- und Sicherheitspolitik und verleiht dem Land erheblichen Einfluss innerhalb des Bündnisses. Die NATO und die westlichen Verbündeten der Türkei haben die BRICS traditionell mit Misstrauen betrachtet und als eine Organisation interpretiert, die den Einfluss der NATO konterkarieren könnte. Als erstes NATO-Mitglied, das eine BRICS-Mitgliedschaft anstrebt, befindet sich die Türkei in einem heiklen Spannungsfeld zwischen etablierten westlichen Bündnissen und nicht-westlichen Mächten, darunter Russland und China.

Die Türkei und Russland haben zwar in Energie- und Verteidigungsfragen zusammengearbeitet, u.a. bei der TurkStream-Gaspipeline und dem ersten türkischen Atomkraftwerk in Akkuyu, doch in regionalen Konflikten wie in Syrien standen sie oft auf verschiedenen Seiten. Dennoch hat Erdoğan seine Arbeitsbeziehungen zum russischen Präsidenten Wladimir Putin aufrechterhalten, was den pragmatischen Ansatz der Türkei in der Außenpolitik unterstreicht.  Wenn die Türkei den BRICS beitritt, könnte diese Annäherung an Russland und China andere Staats- und Regierungschefs dazu veranlassen, ihre Beziehungen zu diesen Mächten und die Politik der NATO zu überdenken, was die Einheit des Bündnisses auf die Probe stellen könnte.

Die Türkei strebt engere wirtschaftliche Beziehungen zur EU an und ist seit 1999 offizieller Beitrittskandidat, aber die Beitrittsgespräche sind seit Jahren ins Stocken geraten, weil sie nicht alle EU-Grundsätze erfüllt. Das Angebot der BRICS kommt ohne die strengen politischen und demokratischen Auflagen der EU aus. Eine stärkere Annäherung der Türkei an die Positionen der BRICS-Länder, insbesondere an diejenigen, die vom Westen abweichen, könnte die EU-Bewerbung der Türkei erschweren.

Die Bemühungen der Türkei, sich einen Platz in den BRICS-Staaten zu sichern, sind ein mutiger Schritt, der ihre Absicht signalisiert, einen Weg der strategischen Autonomie in einer zunehmend von Machtblöcken geteilten Welt zu beschreiten. Indem die Türkei ihre Beziehungen zu ASEAN und SCO ausbaut und gleichzeitig eine Mitgliedschaft in den BRICS anstrebt, unternimmt sie einen geopolitischen Balanceakt, der ein vorsichtiges Vorgehen erfordert. Während die Aussicht auf eine BRICS-Mitgliedschaft dem Bestreben der Türkei entspricht, ihre Bündnisse zu diversifizieren, sollten mögliche Reibungen mit der NATO und der EU nicht unterschätzt werden.

Für die Türkei ist die BRICS-Mitgliedschaft mehr als eine wirtschaftliche oder politische Orientierung; sie steht für die Vision einer Teilnahme am Weltgeschehen zu ihren eigenen Bedingungen. Dieses ehrgeizige Bestreben, sich mit verschiedenen internationalen Blöcken zu verbinden, setzt die Türkei aber auch einem bisher nicht gekannten Druck aus. Die Stärkung der Beziehungen zwischen konkurrierenden Einflusssphären wird die Türkei unweigerlich in Konflikt mit mindestens einem ihrer traditionellen Bündnisse bringen.

Der türkische Ansatz spiegelt die Komplexität einer multipolaren Weltordnung wider, in der die Länder zunehmend versuchen, sich in mehreren Bündnissen zu engagieren, anstatt sich einem einzigen Block oder einer einzigen Ideologie zu verschreiben. Die Fähigkeit Ankaras, dieses heikle Gleichgewicht aufrechtzuerhalten, wird ein echter Test für seine außenpolitischen Fähigkeiten sein und könnte ein Überdenken seiner größeren geopolitischen Ambitionen erfordern.

Bild: 23. Oktober 2024, 16. BRICS-Gipfel: Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan und der russische Präsident Wladimir Putin schütteln sich vor einem Treffen am Rande des 16. BRICS-Gipfels in Kazan, Republik Tatarstan, Russland, die Hände. © IMAGO / SNA
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