Im September 2022 veröffentlichte die spanische Menschenrechtsorganisation Safeguard Defenders einen Bericht über chinesische Polizeistationen im Ausland. Dem Bericht zufolge haben die chinesischen Behörden auf fünf Kontinenten eine Reihe von Polizeistationen“ im Ausland eingerichtet. Sie bieten Verwaltungsdienste an, sind aber auch aktiv an illegalen Polizeiaktivitäten beteiligt. Einen Monat nach der Veröffentlichung des Berichts wurden zwei solcher Polizeistationen in den Niederlanden aufgedeckt. Während China auf die Einhaltung des Völkerrechts pocht, haben viele Länder weltweit bereits eigene Untersuchungen eingeleitet.
Murat Gibadyukov, 28. November 2022
Im Oktober 2022 fanden niederländische Journalisten Beweise dafür, dass die chinesischen Behörden mindestens zwei nicht registrierte und illegale Polizeistationen in den Niederlanden eingerichtet haben. Eine gemeinsame Untersuchung der niederländischen Nachrichtenagentur RTL Nieuws und der Gruppe investigativer Journalisten, Follow the Money, trug dazu bei, die Existenz solcher Polizeistationen aufzudecken, und erzählte die Geschichte des chinesischen Dissidenten Wang Jingyu, der behauptete, die chinesische Polizei schikaniere ihn. Er erzählte den niederländischen Medien, dass er einen Anruf von einem Mann erhielt, der sich als Beamter einer dieser ausländischen chinesischen Polizeistationen ausgab. Laut Wang riet der Mann ihm, so schnell wie möglich nach China zu reisen, um „seine Probleme zu lösen“, und sagte ihm, er solle „an seine Eltern denken“.
Den Ermittlungen zufolge gaben die Polizeistationen in Rotterdam und Amsterdam an, diplomatische Dienste zu erbringen, waren aber nicht bei der niederländischen Regierung angemeldet. Nach Bekanntwerden der Nachricht erklärte der niederländische Außenminister Wopke Hoekstra auf Twitter: „Da keine Genehmigung der Niederlande [für die Stationen] eingeholt wurde, hat das Ministerium den [chinesischen] Botschafter informiert, dass die Stationen sofort geschlossen werden müssen.“ Das Außenministerium der Volksrepublik China (VRC) wies die Vorwürfe über den „Betrieb illegaler Polizeistationen“ in den Niederlanden zurück und erklärte, dass „die chinesischen Behörden für öffentliche Sicherheit das internationale Recht strikt einhalten und die rechtliche Souveränität anderer Länder vollständig respektieren“.
Die Untersuchung erfolgte einen Monat, nachdem eine in Spanien ansässige Nichtregierungsorganisation (NGO), Safeguard Defenders, einen Bericht mit dem Titel „Chinese Transnational Policing Gone Wild“ veröffentlicht hatte. Menschenrechtsaktivisten behaupten, dass Peking ein globales Netzwerk von 54 Polizeistationen geschaffen hat, die nach der nationalen Notrufnummer auch als „110 Overseas“ bekannt sind. Laut Safeguard Defenders betreibt die VR China seit 2018 unter dem Deckmantel von „Service-Centern“ eigene Polizeieinrichtungen in anderen Ländern, um Polizeieinsätze im Ausland durchzuführen und chinesische Personen zur Rückkehr in ihre Heimat zu drängen, damit sie sich der Strafverfolgung stellen. Die VR China selbst behauptet, dass von April 2021 bis Juli 2022 230 000 Verdächtige solcher Straftaten erfolgreich zur Rückkehr nach China „überredet“ wurden, als Teil einer bedeutenden landesweiten Kampagne, um das wachsende Problem des Telekommunikationsbetrugs durch im Ausland lebende Chinesen anzugehen.
Im Jahr 2018 startete die chinesische Regierung eine umfassende „Schuld durch Assoziation“-Kampagne, die auf Verdächtige von grenzüberschreitendem Telekommunikationsbetrug abzielt, mit dem Titel „Bekämpfung von Gangstern und Betrügern, die von ihrem Herkunftsgebiet aus ins Ausland gehen“ (扫黑除恶专项斗争暨赴境外诈骗流出地专项整治). Die Kampagne zielte darauf ab, Betrugsverdächtige zu bestrafen, indem ihr illegal erworbenes Eigentum zerstört, Zuschüsse zur Krankenversicherung ausgesetzt, ihre Pässe eingezogen und u. a. ihren Kindern der Besuch öffentlicher Schulen untersagt wurde. Außerdem dürfen chinesische Staatsangehörige wegen der Gefahr von „schwerem Betrug und Online-Verbrechen“ nicht mehr in neun Länder einreisen oder sich dort aufhalten.
Während einer Pressekonferenz Ende Oktober 2022 sagte die Sprecherin der Europäischen Kommission (EK), Anitta Hipper, dass der EK die Berichte über die chinesischen Polizeistationen in Europa bekannt seien, und fügte hinzu, dass „es Sache der Mitgliedstaaten sei, diese Anschuldigungen zu untersuchen“. Sie versicherte jedoch, dass die Europäische Kommission diese Angelegenheit aufmerksam verfolgen werde und bereit sei, die betroffenen Mitgliedstaaten bei Bedarf zu unterstützen.
Viele Länder waren alarmiert über die Ergebnisse des Berichts von Safeguard Defenders und über die jüngste Entdeckung der chinesischen Polizeistationen in den Niederlanden. Die Behörden Kanadas, des Vereinigten Königreichs, Spaniens und Irlands haben bereits eigene Untersuchungen eingeleitet. Bei diesen Untersuchungen wurden Beweise für solche Polizeistationen gefunden und es wurde damit begonnen, gegen diese illegalen Servicestationen vorzugehen. Die Existenz dieser illegalen Polizeistationen ist jedoch nicht auf die EU beschränkt, sondern soll auch in Kanada, den USA und einigen lateinamerikanischen Ländern, wie z. B. Chile, vorkommen.
Wien war eine der Städte, die in dem NRO-Bericht als Standort für solche Polizeistationen genannt wurden. In einem Interview mit der Austria Presse Agentur erklärte der Sprecher des österreichischen Innenministeriums (BMI) Harald Sörös, dass „die zuständigen österreichischen Behörden die fraglichen Informationen prüfen“, gab aber keine weiteren Informationen bekannt. Er fügte hinzu, dass das BMI „unter keinen Umständen“ illegale Aktivitäten ausländischer Nachrichtendienste oder Polizeibehörden dulde.
Chinesische Beamte leugnen die Existenz solcher Einrichtungen nicht, sagen aber, dass sie ausschließlich dazu dienen, bürokratische Dienstleistungen für chinesische Bürger zu erbringen, und nichts mit Polizeieinsätzen zu tun haben. Offiziell hält Peking an der Auffassung fest, dass „der Zweck der Dienstleistungszentren darin besteht, chinesischen Staatsangehörigen im Ausland zu helfen“, die beispielsweise Hilfe bei der Erneuerung ihres Führerscheins oder bei ärztlichen Untersuchungen benötigen. Es bleibt die Frage, warum die chinesischen Botschaften und Konsulate diese Dienstleistungen nicht anbieten können.
Nach Ansicht von Safeguard Defenders verstößt die chinesische Polizeipraxis gegen die Gesetze der Gastländer und gegen internationales Recht. Die illegalen Polizeistationen nehmen häufig Verdächtige ins Visier, deren Verbindungen zu Verbrechen nicht erwiesen sind. Das Völkerrecht bietet keine Rechtsgrundlage für die Ausübung der Exekutivgewalt durch eine ausländische Macht in einem anderen souveränen Land. Es gibt internationale Verträge und Abkommen, die sicherstellen, dass China die Unterstützung der örtlichen Strafverfolgungs- und Justizbehörden anfordern kann. Chinesische Staatsangehörige zu drängen, nach Hause zu gehen, ist ein eklatantes Beispiel dafür, dass China seinen Einflussbereich überstrapaziert.
Ein New Yorker Gericht hat vor kurzem Dokumente freigegeben, die einen Einblick in das Ausmaß von Chinas angeblicher Einmischungskampagne im Ausland geben. Laut The Guardian: „In einem Fall wurde ein in Kanada lebender chinesischer Staatsbürger unter Druck gesetzt, nach China zurückzukehren, um sich dort einer Anklage wegen Veruntreuung von fast 380.000 CAD (280.000 USD) an öffentlichen Geldern zu stellen.“
Diese Druckkampagne ist nach Angaben des FBI nichts anderes als eine Erpressungskampagne gegen chinesische Dissidenten in den USA und anderen westlichen Ländern, damit sie in ihre Heimat zurückkehren. Die Polizeistationen werden angeblich von Chinas Zentraler Kommission für Disziplinarinspektion unter dem Decknamen „Operation Fuchsjagd“ betrieben, einer von Präsident Xi vor sechs Jahren ins Leben gerufenen Kampagne gegen korrupte Beamte und Geschäftsleute, die ins Ausland geflohen sind.
Am 2. September 2022 führte die Volksrepublik China ein Gesetz gegen Telefon- und Internetbetrug ein, das ihr die extraterritoriale Zuständigkeit für alle chinesischen Staatsangehörigen verleiht, die im Verdacht stehen, derartige Straftaten zu begehen. In Verbindung mit den Polizeistationen im Ausland gibt dies chinesischen Dissidenten außerhalb Chinas kaum eine Chance, sich vor der chinesischen Regierung zu verstecken. Sollten sich die Berichte bewahrheiten, sind im Ausland lebende chinesische Staatsbürger nicht mehr vor dem langen Arm des chinesischen autoritären Regimes sicher.
Verteidiger schützen: 110 OVERSEAS. Transnationale chinesische Polizeiarbeit auf Abwegen